(Be)atmung, ICU
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Über die Definition des ARDS

Anlässlich der Arbeit an einem Konsensuspaper (1) wurde ich von einem Kollegen aufgrund meiner vorgeschlagenen Korrekturen mit folgender Frage herausgefordert:

Wenn jemand mit einem ARDS stirbt, ohne dass er beatmet wurde, ist es dann definitionsgemäß kein ARDS gewesen, sondern eine Pneumonie ohne ARDS?

Kurze Antwort:

Nein.

Definitionsgemäß ist für ein ARDS keine Beatmung, sondern lediglich ein PEEP von mindestens 5 cm H2O gefordert. Dieser kann als CPAP (Atemunterstützung, keine Beatmung! Jedoch landläufig von vielen intensivmedizinisch Tätigen als Beatmung tituliert) oder als nichtinvasive oder invasive Beatmung angelegt werden. (2,3,4)

So gesehen:

Ja.

Wer nicht zumindest atemunterstützt wurde (und so interpretiere ich die Frage), hat nach Definition kein ARDS. Denn das Syndrom hat eben keine strikten Grenzen, sondern ergibt sich aus vielen Puzzlesteinen, zu denen auch (in der Definition) die adäquate intensivmedizinische Behandlung (mit Anwendung einer Form des positiven Atemwegsdruckes) gehört.

Wir müssen also etwas tiefer gehen, da sich offensichtlich keine gänzlich zufriedenstellende Antwort ohne weitere Diskussion finden lässt.

Berlin-Definition aus der Original-Publikation (2)

In der Task Force, die 2012 die Berlin-Definition erstellte, wurde sogar vereinzelt gefordert, die minimale Atemunterstützung auf 10 cm H2O anzuheben. Rationale dafür war, dass so eine ernsthafter Lungenschaden von passageren Störungen abgrenzbar werden könnte.

Das ist problematisch!

Bereits zeitgleich mit der Veröffentlichung der Definition wurde das in einem Editorial kommentiert (5). Einerseits gibt es Regionen, in denen es nicht selbstverständlich ist, ein Beatmungsgerät und eine entsprechende Bildgebung rasch verfügbar zu haben. Das Krankheitsbild und auch der Bedarf an entsprechende Therapie nimmt keine Rücksicht darauf, ob die geforderte diagnotischen und therapeutischen Optionen vorhanden sind; und somit rein formal der Definition genüge getan werden kann.

Die Kigali-Definition hat versucht, das zu berücksichtigen (6)

Dennoch wird weltweit seit ihrer Veröffentlichung die Berlin-Definition für das ARDS verwendet.

Pixabay

Das ist in Zeiten von COVID-19 sehr problematisch!

Denn die nasale High-Flow Sauerstofftherapie (HFNC) war zu Zeiten der Berlin-Definition keine Standard-Therapie bei respiratorischer Insuffizienz. Sie ist – trotz ihrer verbreiteten Nutzung – in der ARDS-Definition nicht abgebildet. HFNC ist wirkungsvoll, wiewohl beim COVID-19 bedingten Lungenschaden die CPAP- oder Beatmungs-Therapie möglicherweise sinnvoller ist. (7).

In meinem Beitrag zur Jahrestagung 2021 der ÖGP habe ich das Thema nebensächlich aufgegriffen (nachzuhören unter 8).

Die S3-Leitlinie zur Behandlung von COVID-19 aus Deutschland (9) ist hier übrigens sehr korrekt und hat nur einmal eine potentiell missverständliche Formulierung verwendet (Seite 19, erster Absatz), zeigt insgesamt aber einen sehr weisen und praxisnahen Wortgebrauch, indem die – klar definierte und pathophysiologisch sinnvolle – Bezeichnung „respiratorische Insuffizienz“ verwendet wird.

Was zusätzlich zu den genannten Defiziten in der Berlin-Definition fehlt, ist die zeitliche Komponente. Der PROSEVA-Trial (10), der immerhin zu einer der wenigen evidenzbasierten Empfehlungen mit Mortalitätsreduktion für die Intensivmedizin führte, trug dem zumindest teilweise Rechnung. Für den Studieneinschluss wurde eine „Optimierung der Beatmung“ über 12 bis 24 Stunden gefordert, bevor Patienten eingeschlossen wurden. Blieb die P/F-Ratio dennoch unter 150 mmHg, wurde dies als Zeichen eines schweren (definitionsgemäß aber moderaten bis schweren) ARDS gewertet. 

Wenngleich, die „Optimierung der Beatmung“ nicht exakt definiert war und jedem Zentrum bzw. Ärzt*in nach persönlichem Geschmack und Erfahrung überlassen blieb, ist dieser Versuch zu würdigen, das ARDS vom – inoffiziell so benannten – Pseudo-ARDS zu differenzieren. Gemeint sind damit Patienten mit bilateralen Infiltraten, die i.e.L. durch Überwässerung, Atelektasen oder Pleuraergüsse – oft iatrogen verursacht – als ARDS behandelt werden. In Realität erfüllen sie aber genau die Ausschluss-Kriterien des ARDS laut Berlin-Definition (ungeachtet ihrer „passend“ schlechten Oxygenierung). (11)

Pixabay

So stellt sich die Frage, ab wann man ein ARDS „diagnostizieren“ oder einfach so benennen kann. Eventuell ist es grundsätzlich sinnvoll, Patienten erst nach frühestens 24 Stunden intensivmedizinischer Betreuung inklusive irgendeiner Form der Atemunterstützung das Label „ARDS“ umzuhängen, gerade um nicht bei noch unklaren oder fehlenden Befunden die Möglichkeit zu einer Optimierung zu übersehen. (12)

Ich komme nun nochmals auf die gestellte Frage zurück:

JA.

Die „Diagnose“ ARDS, so es eine solche gibt (laut ICD 10 schon: J80), ist eine klinische, die eine (stattgehabte) Beatmung respektive Atemunterstützung mit zumindest 5 cm H2O PEEP erfordert. Ob wir das gut oder schlecht, sinnvoll oder nicht finden, ist nicht Gegenstand der Diskussion.

Wenn also jemand mit beidseitigen Infiltraten stirbt, bevor eine Beatmung begonnen wurde (oder weil eine solche als futile nicht eingeleitet wurde), so ist sie/er (wahrscheinlich) an einer respiratorischen Insuffizienz verstorben. 

Es gibt zwar autoptische Korrelate, die gut zu ARDS passen (aber auch in anderen Fällen vorkommen können); die aktuell in der Wissenschaft gebräuchliche (Berlin-)Definition ist dennoch klar (und wird auch in Autopsie-Studien so verwendet). 

Im Gegenteil ist die ARDS-Definition offensichtlich klinisch häufig nicht in Übereinstimmung mit den pathologischen Korrelaten. Bei Autopsien von Patienten mit nach Definition schwerem ARDS werden zeitweise kaum korrelierende Veränderungen gefunden (13)

So gesehen sterben wohl oft auch Patienten, die nach klinischer Beurteilung ein ARDS hatten, nicht an ARDS; erst recht nicht solche, die nach klinischer Definition keines hatten, da sie gar nicht beatmet wurden.

Eine semantische Anmerkung zur ursprünglichen Frage:

Nein.

An einer Pneumonie ohne ARDS ist er/sie daher nicht zwingend gestorben, da das ARDS häufig extrapulmonale Ursachen hat und wir dann eigentlich von einer Pneumonitis sprechen.

Mit ARDS sterben geht also nur, wenn dieses nach Definition richtig diagnostiziert wurde. An einer respiratorischen Insuffizienz (und deren pathophysiologischen Folgen) sterben auch Patient*innen ohne die sperrige Diagnose ARDS.

Quellen

(1) Olschewski H, Eber E, Bucher B, Handzhiev S, Lamprecht B, Mueller A, Hackner K, Hoezuenecker K, Klepetko W, Schindler O, Taeubl H, Urban M, Wagner M, Zacharasiewicz A, Zwick RH, Arns BM, Bolitschek J, Cima K, Gingrich E, Hochmair M, Horak F, Idzko M, Jaksch P, Kovacs G, Kropfmueller R, Loeffler-Ragg J, Meilinger M, Pfleger A, Puchner B, Puelacher C, Prior C, Rodriguez P, Salzer HFJ, Schenk P, Stelzmueller I, Strenger V, Wimberger F, Flick H. Management of patients with SARS-CoV-2 infections with focus on patients with chronic lung diseases Updated Statement of the Austrian Society of Pneumology as of 21 Dec 2021. https://www.ogp.at/wp_ogp/wp-content/uploads/OeGP-Statement-COVID-19_Update-Dec2021_IC.pdf . Wiener Klin Wo (submitted)

(2) The ARDS Definition Task Force*. Acute Respiratory Distress Syndrome: The Berlin Definition. JAMA. 2012;307(23):2526–2533. doi: 10.1001/jama.2012.5669

(3) Ferguson ND, Fan E, Camporota L, Antonelli M, Anzueto A, Beale R, Brochard L, Brower R, Esteban A, Gattinoni L, Rhodes A, Slutsky AS, Vincent JL, Rubenfeld GD, Thompson BT, Ranieri VM. The Berlin definition of ARDS: an expanded rationale, justification, and supplementary material. Intensive Care Med. 2012 Oct;38(10):1573-82. doi: 10.1007/s00134-012-2682-1. Epub 2012 Aug 25

(4) Papazian, L., Aubron, C., Brochard, L. et al. Formal guidelines: management of acute respiratory distress syndrome. Ann. Intensive Care 9, 69 (2019). doi: 10.1186/s13613-019-0540-9

(5) Angus DC. The Acute Respiratory Distress Syndrome: What’s in a Name? JAMA. 2012;307(23):2542–2544. doi: 10.1001/jama.2012.6761

(6) Riviello ED, Kiviri W, Twagirumugabe T, Mueller A, Banner-Goodspeed VM, Officer L, Novack V, Mutumwinka M, Talmor DS, Fowler RA. Hospital Incidence and Outcomes of the Acute Respiratory Distress Syndrome Using the Kigali Modification of the Berlin Definition. Am J Respir Crit Care Med. 2016 Jan 1;193(1):52-9. doi: 10.1164/rccm.201503-0584OC. PMID: 26352116.

(7) Perkins GD, Ji C, Connolly BA, et al. Effect of Noninvasive Respiratory Strategies on Intubation or Mortality Among Patients With Acute Hypoxemic Respiratory Failure and COVID-19: The RECOVERY-RS Randomized Clinical Trial. JAMA. Published online January 24, 2022. doi:10.1001/jama.2022.0028

Anmerkung: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Blog-Post war nur der Preprint publiziert: Perkins GD, Ji C, Connolly BA, Couper K, Lall R, Baillie KJ, Bradley JM, Dark P, Dave C, De Soyza A, Dennis AV, Devrell A, Fairbairn S, Ghani H, Gorman EA, Green CA, Hart N, Hee SW, Kimbley Z, Madathil S, McGowan N, Messer B, Naisbitt J, Norman C, Parekh D, Parkin EM, Patel J, Regan SE, Ross C, Rostron AJ, Saim M, Simonds AK, Skilton E, Stallard N, Steiner M, Vancheeswaran R, Yeung J, McAuley DF. An adaptive randomized controlled trial of non-invasive respiratory strategies in acute respiratory failure patients with COVID-19. medRxiv 2021.08.02.21261379; doi: 10.1101/2021.08.02.21261379

(8) https://www.ogp.at/videovortrag/covid-19-state-of-the-art-behandlung-der-respiratorischen-insuffizienz/

(9) https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/113-001LGl_S3_Empfehlungen-zur-stationaeren-Therapie-von-Patienten-mit-COVID-19_2021-10_1.pdf

(10) Guérin C, Reignier J, Richard JC, Beuret P, Gacouin A, Boulain T, Mercier E, Badet M, Mercat A, Baudin O, Clavel M, Chatellier D, Jaber S, Rosselli S, Mancebo J, Sirodot M, Hilbert G, Bengler C, Richecoeur J, Gainnier M, Bayle F, Bourdin G, Leray V, Girard R, Baboi L, Ayzac L; PROSEVA Study Group. Prone positioning in severe acute respiratory distress syndrome. N Engl J Med. 2013 Jun 6;368(23):2159-68. doi: 10.1056/NEJMoa1214103. Epub 2013 May 20. PMID: 23688302.

(11) https://emcrit.org/pulmcrit/pseudoards/

(12) Villar, J., Pérez-Méndez, L. & Kacmarek, R.M. The Berlin definition met our needs: no. Intensive Care Med 42, 648–650 (2016). doi: 10.1007/s00134-016-4242-6

(13) Thille AW, Esteban A, Fernández-Segoviano P, Rodriguez JM, Aramburu JA, Peñuelas O, Cortés-Puch I, Cardinal-Fernández P, Lorente JA, Frutos-Vivar F. Comparison of the Berlin definition for acute respiratory distress syndrome with autopsy. Am J Respir Crit Care Med. 2013 Apr 1;187(7):761-7. doi: 10.1164/rccm.201211-1981OC. PMID: 23370917.

Anmerkung: Der Inhalt ist die persönliche Meinung des Autors auf Basis der aktuell verfügbaren Definition und Literatur. Eine weitrere rege Diskussion zu dem Thema ist ausdrücklich erwünscht und über die Kommentarfunktion möglich.

Peer Review: Florian Sacherer, Philipp Zoidl

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