Kürzlich stolperte ich über einen Artikel von C. P. M. van der Vleuten (M.A. in Psychology cum laude, Ph.D. in Education, Scientific Director of the School of Health Professions Education der Universität Maastricht).
In diesem Artikel spricht er aus, was mir schon länger auf der Zunge lag-unter anderem weil er sich für eine Modernisierung der medizinischen Lehre bzw. für die Anwendung bereits vorhandener pädagogischer Evidenz einsetzt.
Die Medizin wird von Tag zu Tag besser. Ein Grund dafür ist, dass Wissenschaft und die Anwendung dieses Wissens in unsere tägliche Arbeit einfließt.
Wissenschaft in der Pädagogik gibt es ebenso, aber der Einzug in die Aus- und Fortbildung findet in den seltensten Fällen statt. Die Vorlesung bzw. der Frontalvortrag ist noch immer die am weitesten verbreitete Art des Unterrichtens (und eine der schlechtesten).
„Education in the twenty-first century is not that different from education in the eighteenth century.“
Laut Prof. Vleuten wird zu sehr auf die Informationsübermittlung bzw. Inhaltsübermittlung auf den Lernenden geachtet – diese Übermittlung ist aber nur ein kleiner Bestandteil des Lernens. Statt der Übermittlung von Wissen sollte vielmehr die Verarbeitung dessen im Fokus stehen.
Inhaltsvermittlung ≠ Lernen
sondern
Inhaltsvermittlung + Verarbeitung = Lernen
„In our common conception of learning we assume that information delivery, particularly when stemming from an expert, leads to good learning. With all the evidence on education as we have it, this view on education is rather naive.“
Prof. Vleuten stellt 6 Strategien vor, die solide Evidenz aufweisen, wie Lernen erleichtert wird und Einzug in die Lehre finden sollten:
Ausarbeitung (Elobaration).
Lernen ist nicht so sehr eine Frage des Informationskonsums, sondern vielmehr die aktive Verarbeitung der Informationen. Hierzu gibt es verschiedene Wege: Diskutieren, Zusammenfassen, Schematisieren, in eigene Worte fassen oder die Informationen auf eine Situation oder Problem anwenden. Die Arbeit mit der Information ist wichtig für das Verständnis und Lernen von Information.
Passive Informationsaufnahme hindert dies.
Kooperatives Lernen (Cooperative learning).
Ist per se effektiver als das Lernen alleine. Es ist auch bekannt unter welchen Bedingungen kooperatives Lernen am produktivsten ist: Gleichberechtigung der TeilnehmerInnen, individuelle Verantwortung der Lernenden, Interaktionen die kooperatives Lernen fördern und Aufgaben, die gegenseitige positive Interdependenz erfordern, sind Voraussetzungen hierfür. Hinzu kommt, dass das komplette Berufsleben praktisch Teamarbeit ist. Somit ist kooperatives Lernen nicht nur effektiver, sondern fördert auch die Fähigkeit zur Teamarbeit.
Feedback.
„It almost seems like a platitude, but feedback works.“
Wichtig für effektives Feedback ist die Glaubwürdigkeit der Quelle, das Legen des Fokus auf die Aufgabe (eher als auf die Person) und die Feedbackkultur. Was ebenfalls gut funktionieren soll, ist das Erschaffen eines Dialoges rund um das Feedback. Was aus diesem Artikel hervorgeht und ich ebenfalls gut nachvollziehen kann ist, dass Feedback in der medizinischen Ausbildung zu wenig Anwendung findet.
„The learning of complex skills, a learning outcome pursued by all curricula, can best be achieved by continuous or longitudinal attention with regular feedback and follow-up. Most of our education practices are far removed from that situation.“
Mentoring.
Verbessert die berufliche Entwicklung und ist assoziiert mit einer erfolgreicheren Karriere und dem Erreichen von höheren beruflichen Positionen, vermindert Burnout sowie den Verlust an Produktivität. Zugehörigkeitsgefühl, Kompetenz und Autonomie sind nach der Selbstbestimmungstheorie Bedingungen für die intrinsische Motivation der Lernenden.
„Mentors should therefore support learners autonomy, e.g. listening to and acknowledging student’s perspectives, enquiring what students want. The task of the mentor is thus primarily coaching, and to ask questions rather than give answers.“
Mentoring kommt aber in der medizinischen Ausbildung selten vor. Gründe hierfür sind Zeitmangel, wenig Anreiz für Mentoren, nur kurze Rotationen von Mentees (die eine längere Beziehung nicht ermöglichen). Weiters ist eine Ausbildung zum Mentor natürlich zeitlich und finanziell aufwändig. Auch wird das Suchen nach einem Mentor in unserer Kultur als Zeichen der Schwäche gesehen bzw. als Unfähigkeit des Studierenden/ÄrztIn in Ausbildung sich selbst einen Mentor zu suchen.
„Successful mentoring relationships are marked by reciprocity, personal connection, mutual respect, shared values and clear expectations. Mentoring is dysfunctional when the mentor takes advantage of the mentee or when the mentor has preconceived ideas about the choices students should make.“
Engagement.
Ist in gewisser Weise das Gegenteil von Burnout. Engagement wird verhindert durch externe Kontrolle, vorgeschriebenen Aufgaben und Langeweile. Hingegen wird es durch spannende Aufgaben, Autonomie, Coaching, Vielfalt und Teamarbeit gefördert und führt zu Zufriedenheit und Vitalität bei Lernenden.
„Our education practices are full of external control, boring tasks (listening to teachers for hours), dull and anxious exams, limited (organized) social support, complete summative exam systems dominating all (poor) learning, etc…. Our education should be geared to engagement and excellence, not to fulfilling obligations and minimum standards“
The flipped classroom:
Prof. Vleuten greift auch dieses in der FOAM-Welt viel besprochene Thema auf. Flipping the classroom bedeutet, dass die Informationsgewinnung zuhause geschieht und dessen Anwendung im Unterricht (nicht vice versa wie sonst üblich). Lernende können somit selbstbestimmt, in ihrem eigenen Tempo das zu lernende Thema verarbeiten (Videos wiederholen, Podcasts beliebig oft anhören, Informationen im Internet suchen etc.).
Dies führt unter anderem zu mehr Unterrichtszeit. Die Lehrenden sind für die Bereitstellung der Materialien zuständig. YouTube oder FOAM bieten ja schon längst diese Materialien gratis an. Auch gibt es bereits Curricula an Universitäten die speziell auf FOAM als Unterrichtsmaterial zurückgreifen.
In Bezug auf das Erforschen neuer didaktischer Methoden schreibt er ganz den FOAM-Gedanken aufgreifend:
„We should exchange our best practices and learn from each other.“
In einem rezenten Artikel von Fandler, Gotthardt (die zwei coolen Typen von nerdfallmedizin) und Becker stellen die Autoren Möglichkeiten dar, wie Lehre im Klinikalltag optimiert werden kann:
Format |
Besonderheiten | Vorteile | Nachteile |
Chat-Lerngruppe („Quickie“) | Kurze Inhalte, schnell verfügbar | Schnelle Vermittlung von Wissen und Informationen | Vermittlung komplexer Zusammenhänge schwierig |
Simulations- training (In-situ- Simulation; Fer- tigkeitstraining) | Nahezu reale Fälle umfassend und sicher trainierbar | Training im realen Umfeld möglich
Test von Schnittstellen/ Zusammenarbeit von Be- rufsgruppen Human Factors trainierbar |
Kostenaufwendig Hoher Organisationsauf- wand |
Journal Clubs (virtuell) | Online-Diskussion zu einem Paper | Interaktive Diskussion in größerer Runde Moderation sinnvoll | Organisationsaufwand |
Whiteboard- Lernen | Tägliche Lernpunkte sichtbar machen und weitergeben | Kurze Lernpunkte, effektiv vermittelt
Sichtbarkeit des täglichen Teaching Übermittlung an spätere Schichten |
Keine komplexen Inhalte vermittelbar |
Noon Conference, Weekly Confe- rence | Definierter Freiraum für externe Vorträge oder Lerngruppen | Komplexe Inhalte vermit- telbar
Keine „Störung“ durch Notfälle |
Herausforderung für Dienstplan |
Grand Rounds, Morbidity & Mor- tality | Wöchentlicher Vortrag aus unterschiedlichen Fächern | Fächer-übergreifende Vorträge |
Herausforderung für Dienstplan |
Tabelle nach (2).
Dies sind einige Beispiele wie Lehre verbessert werden könnte. Die ein, oder andere Idee ist gerade dabei sich im Alltag zu etablieren, jedoch liegt der Erfolg meist im Engagement von Einzelpersonen. Auch die größeren FOAM- Blogs und Vertreter schreiben immer wieder passioniert über Ausbildung und ich kann nur jedem empfehlen sich ein paar Artikel durchzulesen (z.B. diesen von Cliff Reid: teaching is a right, not a privilege).
Im Austausch mit AssistenzärztInnen (va. aus dem angloamerikanischen bzw. australischen Raum) sieht man, dass strukturelle und professionelle Ausbildung funktionieren kann. Der Bedarf und Wunsch sind auch bei uns vorhanden und Möglichkeiten gäbe es genug.
Auch Feedback geben und Mentoring muss gelernt sein -dafür gibt es eigene Ausbildungen (für LehrerInnen zur Studierendenbetreuung gibt es dafür sogar ein eigenes Masterstudium). Natürlich ist dies mit einigem Engagement und Zeitaufwand verbunden. Aber worin sollte man sonst investieren wenn nicht in die Zukunft unserer Gesundheitsversorger?
Bessere Ausbildung -> bessere ÄrztInnen -> bessere PatientInnenversorgung
Somit bleibt es an uns Struktur und evidenzbasierte Pädagogik in die Ausbildung von JungärztInnen zu integrieren.
Literatur:
- van der Vleuten, C.P.M. & Driessen, E.W. Perspect Med Educ (2014) 3: 222. doi:10.1007/s40037-014-0129-9
- Fandler, M, Gotthardt P, Becker TK. Moderne medizinische Fortbildung für Notfallmediziner Überblick über aktuelle Formate und Konzepte. Notfall Rettungsmed 2017; DOI 10.1007/s10049-017-0351-1
weitere Links
FOAMina: Ausbildung in einer 48-Stunden-Woche
https://flippedemclassroom.wordpress.com
http://www.kevinmd.com/blog/2013/03/flipped-classroom-future-medicine.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Umgedrehter_Unterricht
https://www.cultofpedagogy.com/retrieval-practice/
https://emcrit.org/emcrit/thoughts-on-deliberate-practice-expertise/