Anästhesie, Blutung und Gerinnung
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Rebalancierte Hämostase

Standardgerinnungstests bei Patienten mit (fortgeschrittener) Lebererkrankung zeigen oft abnorme Werte, die in Richtung Blutungsneigung (verlängerte aPTT, erhöhter INR, verminderte Thrombozyten) tendieren. Trotzdem haben diese Patienten selten spontane Blutungen (ohne spezifischen Trigger). Warum ist das so? Modernere Gerinnungstests weisen darauf hin, dass es bei diesen Patienten zu einer „rebalancierten Hämostase“ kommt:

Zur Wiederholung: Die Leber spielt eine zentrale Rolle da sie sowohl Gerinnungsfaktoren als auch Proteine, die an der Fibrinolyse beteiligt sind, bildet. Darüber hinaus produziert die Leber Thrombopoietin, welches für die Thrombozytenproduktion aus Megakaryozyten verantwortlich ist.

Unsere Gerinnung läuft in 3 Phasen ab:

Primäre Hämostase – sekundäre Hämostase – Fibrinolyse

Eine Lebererkrankung betrifft all diese 3 Phasen und hat somit großen Einfluss auf unser Gerinnungssystem: Verminderte Gerinnungsfaktoren und Thrombozytenzahl auf der einen Seite, kompensatorische vermehrte Synthese von prokoagulatorischen Proteinen auf der anderen Seite.

Prokoagulatorische und antikoagulatorische Maßnahmen halten sich somit die Waage und bilden ein instabiles Gleichgewicht:

 

Veränderungen die Thrombosen fördern

Veränderungen die Blutungen fördern

Synthesestörung von antikoagulatorischen Proteinen Synthesestörung von prokoagulatorischen Proteinen

mit Fortschritt der Krankheit kommt es zu einer Verminderung der Aktivität der prokoagulatorischen Proteine auf 20-46%

 

vermehrte Produktion des von Willebrand Faktors (proportional zur Lebererkrankung) Verminderte Thrombozytenzahl durch

·      Pooling und Sequestration in Milz

·      verminderter Lebensdauer wegen Splenomegalie

·      verminderte Produktion wegen verminderter Thrombopoetinsynthese in der Leber

·      es sind jedoch eine minimale Anzahl von 50-60 x 10 9 Thrombozyten nötig um einen Thrombinburst so generieren

·      (immunologischer Mechanismus mit Gp IIb/IIIa Antikörper)

vermehrte Produktion von F VIII Verminderte Synthesestörung von Faktoren II, V, VII, IX, X, XI, XIII

Dies führt zu einem vermindertem Quick, auch die aPTT kann betroffen sein

 

verminderte Spiegel von Protein C,S, Plasminogen und Antithrombin

 

 

 

 

Brücke .001

The rebalanced state can be likened to a tightrope crossing a gorge compared with a highway; there is much less room for upsets. (1)

 

Trotz erhöhtem INR und verminderten prokoagulatorischen Faktoren scheinen Patienten mit chronischer Lebererkrankung (CLD) –im Gegensatz zu Patienten mit angeborenen Gerinnungsstörungen – kein erhöhtes Risiko für spontane Blutungen zu haben. Die Ursachen der Ösophagusvarizenblutung zum Beispiel, scheint vielmehr eine Konsequenz aus lokalen Gefäßabnormitäten und einem erhöhten portalen Druck zu sein. Die Rolle der gestörten Hämostase diesbezüglich ist fraglich. Auch große Eingriffe wie Lebertransplantationen werden ohne Korrektur der Gerinnungsstörung durchgeführt. Hier ein Zitat der Autoren:

 

We believe that a major surgical procedure such as liver transplantation would never be possible in a patient with a true coagulopathic state, such as a patient with hemophilia, without correction of the coagulopathy with factor concentrates or blood product transfusion…. Abnormal hemostasis tests in patients with liver disease are thus not indicative of a bleeding tendency, and increasing experience from liver transplantation surgery clearly demonstrates that preoperative correction of these laboratory abnormalities does not reduce, and may in fact promote, bleeding. (2)

 

Im Vergleich zu gesunden Personen haben diese Patienten sogar ein erhöhtes Risiko eine tiefe Venenthrombose zu bekommen. Störungen wie eine Infektion oder Urämie können dieses instabile Gleichgewicht jedoch in die eine (Blutung) oder andere (Thrombose) Richtung verlagern.

Ein weiteres Problem ist, dass unsere Standardgerinnungstests weder das gesamte Bild der Gerinnung repräsentieren noch werden kompensatorische Mechanismen wie eine Erhöhung des vWF oder die Protein C Aktivität miteinbezogen. Außerdem wurden sie für ganz andere Aufgabenstellungen designed (z.B. OAK-Einstellung). Vielmehr geben sie uns nur Informationen über kleine Teile der Gerinnungskaskade:

 

Test

untersuchtes System Stärken

Schwächen

INR

klassischer prokoagulatorischer extrinsischer Pfad Leicht erhältlich, schnell, billig, gute Korrelation mit Schwere der Lebererkrankung Hohe Variabilität zwischen verschiedenen Labors, keine Vorhersage über Blutungsrisiko, nur schmales Fenster des  prokoagulatorischen Systems wird gemessen

aPTT

klassischer prokoagulatorischer intrinsischer Pfad Leicht erhältlich, schnell, billig, kann angeborene Faktorenmängel detektieren reflektiert normalerweise keine hepatische Dysfunktion, nur schmales Fenster des  prokoagulatorischen Systems wird gemessen

Thrombozytenzahl

Thrombozyten Leicht erhältlich, schnell, billig, klinische Korrelation mit Blutungen bei Anzahl < 60 x 109/L Gibt keine Aussage über Thrombozytenfunktion, nicht brauchbar zur Vorhersage von Blutungen bei höherer Anzahl

(Nach Tab 1. nach (1) Es empfiehlt sich die ganze Tabelle mit vielen weiteren Test, deren Stärken und Schwächen, anzusehen)

Die Risikostratifizierung für Eingriffe ist schwierig und der INR unbrauchbar.

Die Autoren beschreiben, dass der INR häufig dazu verwendet wird das Blutungsrisiko für Eingriffe vorherzusagen obwohl der INR nur einen kleinen Teil der Gerinnung widerspiegelt und es zahlreiche Publikationen gibt die das Fehlen an Nützlichkeit des INR zur Vorhersage von Blutungen bei zahlreichen Eingriffen bestätigen (ua: Leber- und Nierenbiopsien, ZVK-Anlage, Zahnextraktionen, koronare Herzkatheteruntersuchungen, Koloskopie mit Polypektomie uvm.).

Dies wird mit der leichten Verfügbarkeit, das Fehlen einer etablierten Alternative und dem Missverständnis seiner Bedeutung erklärt.

Wie kann man das Blutungsrisiko sonst vorhersagen? Schwierig:

Thrombozytenzahl: es gibt physiologische Hinweise, dass eine Thrombozytenzahl von 50 – 60 x 109 / L ausreicht um einen Thrombinburst zu fördern und die Gerinnungskaskade zu entfachen. (über 100 x 109 / L wird nicht mehr wesentlich mehr Thrombin ausgeschüttet)

Thrombozytenfunktionstests: sind nicht immer verfügbar und brauchen eine normale Thrombozytenzahl um adäquate Testergebnisse zu liefern. Ihre Rolle bei Lebererkrankungen ist zurzeit noch unklar.

vWF– Faktor-VIII-Komplex Spiegel: korrelieren mit endothelialer Dysfunktion bei Patienten mit chronischer Lebererkrankung und sind ein unabhängiger Risikofaktor für Komplikationen bei portaler Hypertension. Nicht jedoch für Blutungen allein.

Fibrinogenspiegel: variieren bei CLD Patienten stark und es scheint keine klare Korrelation zwischen Fibrinogenspiegeln und Blutungen bei Lebererkrankungen zu geben (Ausnahme: DIC). Da Fibrinogen ein akute Phase Protein ist schwankt der Fibrinogenspiegel stark.

Thrombelastographie: Diese Methode bildet die gesamte Gerinnung – von der primären Hämostase bis zu Fibrinolyse – ab. Laut Autoren jedoch gibt es zurzeit noch keine ausreichende Validierung bei Patienten mit Lebererkrankung.

Dieser Artikel gibt auch Überlegungen zu häufigen klinischen Szenarien (Portalvenenthrombose, TVT/PAE, akutes Leberversagen).
Bezüglich invasiver Eingriffe wurden folgende Punkte empfohlen: (aus (1) Tab 2).

  • abhängig vom Risiko des Eingriffs sollte die Thrombozytenzahl auf mindestens 50-60 x 109 /L (hohes Risiko) bzw. eher 100 x 109 /L (sehr hohes Risiko) angehoben werden
  • Schleimhautblutungen an den Punktionsstellen nach invasiven Eingriffe können ein Hinweis für Hyperfibrinolyse sein
  • Zugrundeliegende Störungen (Infektion, Nierenversagen etc.) sollten vor einem elektiven Eingriff aggressiv therapiert werden
  • DDAVP intranasal könnte eine effektive prophylaktische Maßnahme bei Eingriffen wie Zahnextraktionen sein
  • ein moderat erhöhter INR (<3) sollte kein Maß für erhöhtes Blutungsrisiko darstellen
  • rFVIIa sollte zur Prophylaxe vermieden werden, außer bei höchst Risiko-Eingriffen

 

Nachtrag, Mai 2017:

Was sagen die Guidelines der ESA dazu (Management of severe perioperative bleeding, first update 2017):

What is the evidence that haemostasis is ‘re- balanced’ in chronic liver disease?

Despite PT, aPTT and INR indicating coagulopathy in CLD (chronic liver disease) , global coagulation tests (thrombin generation and VHA) suggest that haemostasis is balanced in stable CLD. C

VHA: viscoelastic haemostatic assay

What is the evidence that INR reflects bleeding risk in patients with chronic liver disease? Mild-to-moderate prolongation of the preoperative PT and INR do not predict bleeding in patients with CLD. C

 

Zusammenfassend aus diesen Artikeln kann man schließen, dass:

 

  • das Dogma, Patienten mit Lebererkrankung zu Blutungen tendieren, nicht durch Evidenz unterstützt wird
  • ein Gleichgewicht besteht aber instabiler ist
  • diese Patienten anfälliger sowohl für thrombotische Ereignisse als auch für Blutungen sind
  • diese Komplikationen von Standardgerinnungstests nicht vorausgesagt werden können
  • eine Routinekorrektur mit Blutprodukten nicht nötig ist und eventuell sogar mehr schadet als nutzt
  • mehr Forschung notwendig ist, um die Versorgung für diese Population zu optimieren.

 

 

Literatur:

  1. Coagulation in Liver Disease: A Guide for the Clinician PG Northup, SH Caldwell. Clinical Gastroenterology And Hepatology. 2013;11:1064–1074
  2. Perspectives: Rebalanced hemostasis in patients with liver disease: evidence and clinical consequences. T Lisman, RJ Porte. Blood. 2010;116(6):878-885

     

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