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HWS-Immobilisation – friend or foe?

In meinem letzten Artikel zum Thema „Atemwegsmanagement bei Traumapatienten“ habe ich geschrieben, dass es „berechtigte Zweifel an der Effektivität der HWS-Immobilisation“ gibt. Hier möchte ich nun ausführen, was genau ich damit gemeint habe.

Alle Traumarichtlinien (ATLS, PHTLS, etc.), die sich über die Jahren etabliert haben, empfehlen die Halswirbelsäulen (HWS) – Immobilisation und werten diese teilweise gleich wie einen sicheren Atemweg, indem sie die HWS-Immobilisation beim Management nach dem ABCDE-Schema auf dieselbe Stufe wie den Airway stellen (1). Wann überhaupt immobilisiert werden soll, zeigen uns Handlungsbäume wie die NEXUS-Kriterien (2), die Harbour view-Kriterien (3) oder auch die Canadian C-Spine Rule (siehe Abbildung) (4) auf.

Abbildung 1: Canadian C-spine rule (4)

Picture1

 

 

Doch was erhoffen wir uns davon und was können „Halskrausen“ im präklinischen Setting tatsächlich?

Zunächst sollten wir uns fragen, wie oft derartige Verletzungen überhaupt vorkommen:
Laut einer großen Multicenterstudie in Europa kommt es in 3,5% der Traumata (von Erwachsenen) zu HWS-Verletzungen. 76,7% davon wiederum hatten eine Fraktur/Dislokation ohne neurologischen Schaden. 23,3% der HWS-Verletzten (also der 3,5%) hatten eine Rückenmarksverletzung – mit oder ohne Fraktur. (5)
Man kann also sagen, dass statistisch gesehen in 0,8% der Traumata auch eine Rückenmarksverletzung bei HWS-Trauma vorkommt und damit selten ist.

Was sollen HWS-Schienungen verhindern?
Die instabile HWS lässt signifikant mehr Bewegungen zu (6). Um neurologische Sekundärschäden zu vermindern sollen HWS-Schienen den Bewegungsradius zumindest minimieren können. Primäres Ziel ist es jedoch die HWS vor Stauchungen zu schützen (1).

Was können HWS-Schienungen tatsächlich?
In einer Kadaver-Studie von Horodyski et al. wurden Ein-Stück, Zwei-Stück und keine HWS-Schienung bei stabilen und instabilen (C5-C6 Level) Halswirbelsäulen miteinander verglichen. Hierbei konnten bei der instabilen HWS keine signifikanten Unterschiede des Bewegungsradius in Bezug auf Extension, Flexion, Rechts-/Linksdeviation, Rechts-/Linksdrehung in den Gruppen festgestellt werden. (6)
Bei höheren Levelverletzungen (C1-C2/C2-C3) scheinen die HWS-Orthesen besser zu wirken (7). Generell ist die Bezeichnung „Immobilisation“ also nicht zutreffend, sondern man sollte eher von einer „motion restriction“ reden (8).
Sie können den intrakraniellen Druck (ICP) erhöhen und damit Patienten mit Schädel-Hirn Traumata (SHT) einen weiteren Schaden hinzufügen (9,10).
Weiters gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass starre HWS-Orthesen Drehpunkte erzeugen, die die intervertebralen Bewegungen erhöhen können, was wiederum Verletzungen aufgrund von unphysiologischen Bewegungen machen kann (11).
Es ist weiters unwahrscheinlich, dass Bewegungen danach schwerwiegender in ihrem Verletzungsausmaß sind als das Primärtrauma (12).
Für das Brechen eines Wirbels müssen ca. 2000 N auf den Halswirbel einwirken. Das Herabhängen des Kopfes (4 kg) eines Bewusstlosen von einer Trage erzeugt vergleichsweise eine Kraft von 40 N. Das unterstützt die Theorie, dass das Sekundärtrauma nicht größer sein kann. (13)
3-25% der Rückenmarksverletzungen wiederum passieren sekundär, meistens aufgrund von unzureichendem Management wie einer inadäquaten Immobilisation (14). Hauswald et al. berichtet so in einer Studie, in der er retrospektiv zwei Patientengruppen verglichen hat, wovon die eine während des Transportes immobilisiert war und die andere nicht, dass erstere sogar ein erhöhtes Risiko einer neurologischen Verletzung hatte (13). Diese Studie war eindrucksvoll, weil sie in zwei unterschiedlichen Ländern durchgeführt wurde, wovon eines (die immobilisierte Gruppe) ein gutes präklinisches System hatte und die andere keines (die nicht-immobilisierte Gruppe).

Was sollen wir nun mit diesen Infos machen?
Bei Patienten, die wach sind und kommunizieren können, nicht intoxikiert sind, keine Schmerzen angeben und keinen Muskelhartspann in der HWS haben, sensomotorisch unauffällig sind und keine signifikanten Begleitverletzungen haben sollen laut einer Guideline der American Association for Neurological Surgeons nicht immobilisert werden (15). HWS-Immobilisationen haben sehr wohl ihre Berechtigung und können die Bewegungsradii einschränken, besonders bei instabilen Verletzungen – wenn auch nicht signifikant (6). Besonders aber erinnern sie einerseits den Patienten selbst sich weniger zu bewegen und andererseits auch die Helfer – prä-, sowie innerklinisch – mit dem Patienten vorsichtig umzugehen, besonders falls der Patient bewusstlos ist (6). Außerdem bringt die HWS-Orthese alleine nichts, wenn man nicht die restliche Wirbelsäule und den Kopf selbst zusätzlich mitimmobilisiert, besonders bei instabilen HWS-Verletzungen (16). Nicht umsonst gehören die Trauma-Drillinge (HWS-Immobilisation, Schaufeltrage und Vakuummatratze) zusammen und sollten auch nicht ohne die jeweils anderen angewandt werden.

 

Wichtig ist es bei der Anwendung der Halskrausen zu bedenken, dass diese auch möglicherweise schaden können, besonders wenn man keinen Wert auf adäquate Handhabung dieser legt. Unter Berücksichtigung der genannten Fallstricke ist es aber ein berechtigtes Tool um weitere Verletzungsrisiken der HWS zu minimieren. Man sollte aber auch bedenken, dass die spinale „motion restriction“ niemals lebensrettende Sofortmaßnahmen beim Traumapatienten verzögern darf (17).
Wenn man dann noch über den Tellerrand blickt, gibt es durchaus auch andere Wege sich an das Thema der „motion restriction“ zu nähern:
Bei den Norwegischen Guidelines zu diesem Thema bleibt es dem Anwender überlassen welches Tool er verwenden möchte: manuelle In-line Stabilisierung, head-blocks oder Halskrause, jeweils nach Abwägung von Pro und Kontra. Es wird aber auch erwähnt, dass die Halskrause nicht standardmäßig angewendet werden soll, eben aus den zuvor genannten Gründen. (17)
Keine der genannten Methoden zeigt sich in der Literatur vorteilhafter als die anderen, jedoch existieren eben Daten bezüglich möglicher Nachteile der Halskrause (18).
Auch das Consensus Statement des Royal College of Surgeons of Edinburgh sagt, dass In-Line Stabilisierung eine gute Alternative zur Halskrause ist, die bei falscher Anwendung schaden kann (19). Natürlich ist das aber während eines präklinischen Transportes kaum suffizient durchzuführen.
Sowohl die norwegischen Guidelines, wie auch dieses Statement sagen klar, dass eine motion restriction bei penetrierenden Traumata ohne neurologisches Defizit nicht erforderlich ist (17,19).

Limitationen:
Es gibt keine prospektiven, randomisierten Daten bei Lebenden zu diesem Thema, nur retrospektive Analysen oder Kadarverstudien, welche Bewusstlose immerhin „simulieren“ können, im Endeffekt aber keine verlässlichen Prognosen zulassen. Mangels adäquater Literatur zu diesem Thema ist es dennoch so, dass Guidelines die HWS-Immobilisation empfehlen, weil es auf den ersten Blick logischer erscheint, dass es mehr schaden würde bei möglichen HWS-Verletzungen keine Halskrause anzulegen. Grob gesagt gibt es Literatur, die über mögliche Schäden berichtet und nur wenig, die einen echten Benefit bestätigen (15). Trotzdem wird es mit niedrigem Evidenzgrad empfohlen. Diese Tatsache sollte von Anwendern bedacht und kritisch hinterfragt werden.

 

Also seid kritisch, wenn ihr das nächste Mal eine Halskrause anlegt und seht es nicht als selbstverständlichen Vorteil für den Patienten an, denn wie wir gesehen haben ist es das nicht immer.

 

„Criticism may not be agreeable, but it is necessary. It fulfils the same function as pain in the human body. It calls attention to an unhealthy state of things.“
W. Churchill


Im Rahmen der Beitragserstellung haben wir Dr. Haris Begovic (Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin, Notarzt und ehemaliger HEMS-London Doc) gebeten ein Kommentar zu diesem Thema beizusteuern und seine Erfahrungen mit uns zu teilen (wie immer wenn man ihn kennt, mit unterhaltsamen Anekdoten):

Servus und „bitešen“:

2011 bin ich als Notarzt in England zu einem Verkehrsunfall gerufen worden. Es hat geregnet (selten in England), nein es hat geschüttet. Die Unfallbeteiligten stehen neben ihren Autos und sind bis auf die Haut durchnässt. Die Polizei vor Ort ließ sie nicht in einem ihrer Autos im Trockenen sitzen. Warum frage ich mich?

2008 ist bei einem Verkehrsunfall die Fahrerin eines beteiligten PKW’s selbst aus dem Auto ausgestiegen, ist herumgegangen und nachdem es geregnet hat, hat ein höflicher Polizist sie in sein neues Dienstauto hineingesetzt. Der später hinzugekommene Paramedic hat entschlossen, eine wirbelsäulenschonende Bergung durchzuführen: Die Feuerwehrmänner zerschnitten das Polizeiauto in Stücke um die Patientin mit Stifneck, Headblocks und Spinalboard zu bergen. Ist dass eine Überreaktion des Paramedic?

Tatsache ist: „Jeder will sich mit verschiedenen Richtlinien absichern!”
Seitdem lässt kein Polizist in Grossbritanien (und auch die meisten Verkehrsteilnehmer) einen Unfallbeteiligten ins eigene Auto steigen!
Die Patientin wurde noch am selben Tag aus dem Krankenhaus entlassen.

2013, Isle of Man Tourist Trophy Motorradrennen: Ein Biker stürzt mit ca. 250 km/h. Am Unfallort sitzt er mit seiner Motorradbekleidung aus Leder, hält sein Kopf und lässt keinen von vielen Helfern seinen Helm abnehmen. Ich fragte ihn warum und er sagte
“Doc, I think my head is gonna fall off.” Er wurde ohne Stifneck, ohne Helmabnahme, ohne Analgosedierung, sitzend mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht. Er hatte mehrere gebrochene Halswirbeln und wurde operativ versorgt.
Er sitzt wieder am Bike.

Es gibt andere unzählige Beispiele wo bei der HWS-Immobilisation über- oder untertrieben wird. Einige Länder haben festgelegte Richtlinien (NEXUS, Canadian C-Spine, etc…), jedoch muss klar sein, dass diese nur Hilfsmitteln sind und keine Richtlinie eine richtige klinische Untersuchung und Entscheidung ersetzen darf. Medizinisches Personal in der Präklinik muss situationsabhängig und individuell handeln um eine optimale Patientensicherheit und -versorgung zu gewährleisten.

Zu eurer Diskussion: UK benutzt NEXUS, Skandinavier legen noch Stifnecks an aber heuer wird noch eine neue Richtlinie kommen. HEMS Sydney legt Stifnecks,an London HEMS sowieso Stifneck, Headblocks und Schaufeltrage.

Artikel ist gut, keiner wird sich auf eine Richtlinie festlegen. Ewige Diskussion, manche Dinge haben es an sich.

Literatur:

1. National Association of Emergency Medical Technicians (U.S.). Pre-Hospital Trauma Life Support Committee., American College of Surgeons. Committee on Trauma. PHTLS : prehospital trauma life support. Elsevier Mosby; 2007. 594 p.
2. Hoffman JR, Wolfson AB, Todd K, Mower WR. Selective cervical spine radiography in blunt trauma: methodology of the National Emergency X-Radiography Utilization Study (NEXUS). Ann Emerg Med. United States; 1998 Oct;32(4):461-9.
3. Hanson JA, Blackmore CC, Mann FA, Wilson AJ. Cervical Spine Injury. Am J Roentgenol. American Roentgen Ray Society; 2000 Mar;174(3):713-7.
4. Stiell IG, Wells GA, Vandemheen KL, Clement CM, Lesiuk H, De Maio VJ, et al. The Canadian C-spine rule for radiography in alert and stable trauma patients. JAMA. United States; 2001 Oct;286(15):1841-8.
5. Hasler RM, Exadaktylos AK, Bouamra O, Benneker LM, Clancy M, Sieber R, et al. Epidemiology and predictors of cervical spine injury in adult major trauma patients : A multicenter cohort study. 2009;72(4):975-81.
6. Horodyski M, DiPaola C, Conrad B, Rechtine G. CERVICAL COLLARS ARE INSUFFICIENT FOR IMMOBILIZING AN UNSTABLE CERVICAL SPINE INJURY. JEM. Elsevier Inc.; 2011;41(5):513-9.
7. Latta L, Milne E, Richter D, Latta LL, Milne EL, Varkarakis GM, et al. The Stabilizing Effects of Different Orthoses in the Intact and Unstable Upper Cervical Spine : A Cadaver Study. 2001;(May).
8. Stanton D, Hardcastle T, Muhlbauer D, van Zyl D. Minerves et immobilisations: Recommandation tirée des meilleures pratiques sud-africaines. African J Emerg Med. African Federation for Emergency Medicine; 2017;7(1):4-8.
9. Davies G, Deakin C, Wilson A. The effect of a rigid collar on intracranial pressure. Injury. 1996;27(9):647-9.
10. Dunham CM, Brocker BP, Collier BD, Gemmel DJ. Risks associated with magnetic resonance imaging and cervical collar in comatose, blunt trauma patients with negative comprehensive cervical spine computed tomography and no apparent spinal deficit. Crit Care. BioMed Central; 2008;12(4):R89.
11. Lador R, Ben-Galim P, Hipp JA. Motion Within the Unstable Cervical Spine During Patient Maneuvering: The Neck Pivot-Shift Phenomenon. J Trauma Inj Infect Crit Care. 2011 Jan;70(1):247-51.
12. Hauswald M, Braude D. Spinal immobilization in trauma patients : is it really necessary ? 2002;566-70.
13. Hauswald M, Ong G, Tandberg D, Omal Z. Out-of-hospital Spinal Immobilization : Its Effect on Neurologic Injury. 1998;5(3):214-9.
14. Sundstrøm T, Asbjørnsen H, Habiba S, Sunde GA, Wester K. Prehospital Use of Cervical Collars in Trauma Patients: A Critical Review. J Neurotrauma. 2014;31(6):531-40.
15. Theodore N, Hadley MN, Aarabi B, Dhall SS, Gelb DE, Hurlbert RJ, et al. Prehospital Cervical Spinal Immobilization After Trauma. Neurosurgery. Oxford University Press; 2013 Mar 1;72(suppl_3):22-34.
16. Ahn H, Singh J, Nathens A, Macdonald RD, Travers A, Tallon J, et al. Pre-Hospital Care Management of a Potential Spinal Cord Injured Patient : A Systematic Review of the Literature and Evidence-Based Guidelines. 2011;1361(August):1341-61.
17. Kornhall DK, Jørgensen JJ, Brommeland T, Hyldmo PK, Asbjørnsen H. The Norwegian guidelines for the prehospital management of adult trauma patients with potential spinal injury. Scand J Trauma Resusc Emerg Med. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine; 2017;1-11.
18. MacDonald RD. Articles That May Change Your Practice: Spinal Immobilization. Air Med J. Air Medical Journal Associates; 2017;36(4):162-4.
19. Connor D, Porter K, Bloch M, Greaves I. Pre-hospital Spinal Immobilisation : An Initial Consensus Statement. :1-7.

 

9 Kommentare

  1. Volker sagt

    Wir waren vor kurzem auf einer Fortbildung zum NFS,Notfallsanitäter, ist ja den meisten inzwischen geläufig, bei der Trauma Prüfung ohne HWS Immobilisation ist es ein „Durchfallkriterium“ , für alle die es noch werden wollen, und Diskussionen sind dies bezüglich zwecklos.
    MfG

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    • Hallo!
      Ja das verstehe ich, das ist sehr ärgerlich! Leider sind die Einsatzorganisationen diesbezüglich nicht immer liberal, andererseits müssen sie sich auch auf Empfehlungen berufen um rechtlich abgesichert zu sein. Allerdings sollten wir alle nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne des Patienten handeln und das stets überdenken. Mit dem Anspruch auf eine qualitative Notfallmedizin liegt es also an uns besser zu werden und Systeme zu ändern.
      Diskutiert also, das ist wichtig auch wenn es für derartige Prüfungen momentan nicht vorteilhaft ist, da gebe ich dir vollkommen recht.
      Das ändert ja aber nichts an der Berechtigung zum Zweifeln der HWS-Immobilisation, wie sie aktuell oft durchgeführt wird!
      Glg
      Michi

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